Sonntag, 8. Juni 2008

Aus meinem Tagebuch

------- Aus meinem Tagebuch:

** 9. Mai **

Ich stehe wie der dumme August vor dem Fahrkartenautomat und will eine Fahrkarte nach Wiesbaden. Zweimal habe ich die Anweisungen am Automat gelesen und zweimal habe ich die falschen Nummer getippt. „ Bitte geben sie die richtigen Zielnummer an! „
Meldet der Automat wieder. Bin ich blöd?
Wahrscheinlich ja !
Ich bin am Südbahnhof in Frankfurt. Es ist Frühabend und ich will endlich nach Hause. Ein langer Tag war es. Ein langer Tag am „ Goethe Institut“ . Und ich habe die ganze Zeit nur geschrieben, ohne zu denken. Es war ein Wettmarathon. Eine sinnlose Schreiberei kommt es nur vor.
Heute bin ich eine Schreibmaschine gewesen. Ich habe aber nur das geschrieben, was die anderen von mir verlangt haben und nicht das, was ich selber will. Heute war ich eine vorgesteuerte Maschine. Ursula hatte mich vorprogrammiert.
„ .... Bitte geben sie die richtige Zielnummer .... “ meldet kaltblütig wieder der Automat. Ich bin kaputt, fix und fertig. Dieser langer Tag hat mich kaputt gemacht. Kein Wunder, dass ich jetzt durcheinander bin. Aber dieser Automat ist noch dummer als ich. Es sinnvoll, wenn Ursula einmal die ganze „ Deutsche Bahn “ neu programmieren würde.
Beim nächsten Versuch tippe ich die richtige Nummer für Wiesbaden. Es ist 65. Dann kommt die nächste Etappe. Bin ich Erwachsener oder Kind?
Zwar verhalte ich mich manchmal wie ein Kind, aber das ist hier nicht entscheidend. Und ich bin heute ein Schulkind gewesen. Ein Schulkind, das bis zum Schweißen geschrieben hat. Aber das zählt ebenso nicht. Ich bekomme keine Ermäßigung, muss also den vollen Preis zahlen. Jetzt stellt sich die nächste Frage. Einzelfahrt oder was anders .....
Ich hasse die Fragen. Ich bin heute unter einer Unmenge von Fragen zerquetscht worden.
Ich will keine Fragen mehr. Ich will ein Leben ohne Fragen. Ein fragenloses Dasein. Ich wünsche mir nur noch Antworten. Ein Leben voller Antworten. Und Antworten ohne Fragen. Und ich träume von einem Leben ohne Fahrten, ohne Wege, nur mit Ziel. Mit vielen Zielen. Auf einmal fällt mir ein, dass ich immer unterwegs gewesen bin ohne ein Ziel erreicht zu haben, ohne irgendwo zur Ruhe gekommen zu sein. Nur unterwegs, unablässig unterwegs, wie ein Ahasver, wie der „ Ewige Jude “ ... „ Correr es mi destino “ , würde Gloria sagen.
Der Spaß mit dem Automat ist immer noch nicht zu Ende. Sechs Euro und fünf und siebzig Cents verlangt er für die Fahrt nach Wiesbaden.
Nicht nur Menschen, sondern auch die Maschinen, die Metalle und die Steine pumpen uns aus. Alle wollen unser Geld. Und alle wollen immer mehr. In der Regel bekommt man Geld nur einmal in Monat aber jeder muss täglich hunderte Male zahlen. Mir wäre es lieber, wenn ich ständig was bekommen und einmal im Monat zahlen sollte.
Ich schaue nochmal den Preisanzeiger an. Er zeigt immer noch 6,75 € und ich ärgere mich. Ich komme auf die Idee diesmal schwarz zu fahren. Soll ich schwarz fahren und ein paar Euros sparen? Ich verzichte darauf. Nicht, weil ich ehrlich bin oder es unfair finde, sondern vor Angst. Angst von Ärger. Ich könnte dadurch mehr Ärger bekommen.
Für heute aber habe ich genug gehabt. Ich erspare mir lieber Ärger und bezahle diesem geldgierigen Automat den Fahrpreis. Also wird heute mit Schwarz fahren nichts. Aber wenn ich nicht Schwarz fahre, wie fahre ich dann? Fahre ich Weiß? Fahre ich bunt? Oder fahre ich antischwarz? Warum heißt es eigentlich Schwarz fahren? Wieso hat sich dieser Ausdruck durchgesetzt? Hat sich jemand dafür entschieden? Wer entscheidet über unsere Terminologie?
Muss unbedingt alles, was uns nicht gefällt schwarz sein? Alles, was unbeliebt, unfair, unangenehm oder Unsinn ist, muss schwarz heißen? Warum heißt es nicht, sagen wir mal, Weiß fahren oder Blond fahren oder gar Blöd fahren?
Blond fahren hört sich besser an. Das würde ich öfter tun. Heute wird jedoch antischwarz gefahren. Ich habe sowieso bezahlt.
Am Gleis vier steige ich ein. Es ist die S-Bahn Linie fünf Richtung Friedrichsdorf.
Es ist ziemlich leer. Es gibt jede Menge Platz und ich kann zwischen den vielen Sitzmöglichkeiten wählen. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass ich freie Wahl habe. Es ist ein gutes Zeichen. Es ist sehr erfreulich, wenn man viele Möglichkeiten hat, wenn man viel Platz hat. Man fühlt sich leichter und man wird ruhig. Da ich die Freiheit zur Wahl habe suche ich mir einen günstigen Platz am Fenster und mache es mir bequem.
Es ist Mai. Ich weiß nicht ob der 9. Tag des Monats zu seinem Anfang oder zu seiner Mitte gehört. Vielleicht zu beiden, vielleicht aber zu keinen. Auf jeden Fall es ist ein sonniger warmer Maitag. Da die Sonne direkt auf mich scheint, wechsele ich meinen Platz. Unter der Sonne wird mir unbehaglich. Mir wird zu warm. Die Sonne brauche ich nie mehr im Leben. Ich habe genug getankt.
An der Hauptwache muss ich umsteigen. Die S-Bahn Linie 8 fährt weiter nach Wiesbaden. Ich steige ein. Diesmal ist der Zug voll. Ich finde nur schwer einen freien Platz. Viele anderen müssen stehen bleiben. In jeder Station steigen mehr Leute ein als diejenigen, die aussteigen. Es wird wärmer und wärmer. Ich ziehe meine Jacke aus. Es hilft nicht viel. Am Flughafen steigen viele Gäste aus aber werden sofort durch neue Gesichter ersetzt. Der Zug bleibt voll und fährt weiter. Eine elegant gekleidete Blondine nimmt mir gegenüber Platz. Sie hat einen Hosenanzug an und schleppt einen Pilotkoffer mit sich. Ihr Anzug ist dunkelblau, fast schwarz. Um den Hals trägt sie ein gelbes Halstuch, das sorgfältig gewickelt und vorschriftsmäßig geknotet worden ist. Die Blonden Haare hat sie am Hinterkopf zusammen gebunden. Sofort holt sie einen kleinen Spiegel aus der Tasche raus. Macht die Harre zu recht, kontrolliert ihr Gesicht und ihren Sakko und macht sich frisch. Sie wirkt sich selbstbewusst, sicher, voller Energie und ignoriert alles um sich herum, als wäre sie allen anderen überlegen. Sie ist sicher, dass sie Aufmerksamkeit erregt hat und weiß genau, dass viele Blicke auf sie gerichtet worden sind.
Sie nimmt ein Taschenbuch in die Hand. Legt das rechte Bein auf das Linke. Dabei bewegt sich ihr kleiner Köpf nach hinten und ihre mächtige Hüften nach vorne in meine Richtung. Einen kurzen Augenblick treffen sich unsere Blicke. Sie zieht sich etwa zurück und ich sehe sofort in eine andere Richtung weg. Ihr Augen sind grün, wie die einer Katze, scharf und giftig. Ich will ihre Augen genauer anschauen, wage es aber nicht, vielleicht später. Sie vertieft sich in ihr Buch und ich vergesse sie eine Weile.
Ich werde wieder auf sie aufmerksam, als sie sich ein Paar Mal bewegt und tief atmet.
Man merkt, dass es ihr zu warm ist. Sie nimmt wieder eine stabile Sitzpositionen, fünf und vierzig Grad, Richtung Nordosten. Diesmal macht sich die andere Hälfte ihrer Hüfte bemerkbar. Sie öffnet den obersten Knopf an ihrem Hemd und ich warte auf den zweiten. Ich finde die Temperatur in der S- Bahn warm genug. Man könnte eigentlich mehrere Knöpfe öffnen. Sie öffnet den zweiten und ich warte auf den dritten.
Das passierte aber nicht. Sie merkt, dass ich sie beobachte. Sie schneidet Grimasse und ohne was zu sagen schimpft sie mich lautlos nur mit ihren giftigen Augen. „ Du mich auch “ erwidere ich in meinen Gedanken. Ich würde ihr was sagen aber ich halte mich zurück. Sie könnte mir eine Ohrfeige verpassen, denke ich bei mir. Der Abstand zwischen uns ist gering, nur ein Katzensprung.
Sie zieht den Sakko aus, dabei sieht sie, dass ein Knopf locker ist. Sie verliert keine Zeit. In der Tasche hat sie eine ganz kleine, flache Packung, nicht großer als ein Quadrat von 5- Zentimeter Länge. Vier oder fünf Nadeln in verschiedenen Größen und Fäden in unterschiedlichen Farben sind die Bestandteile dieser Packung. Es ist erstaunlich, was sich alles in einer kleinen Kulturtasche einer Dame befindet, sehr praktisch und nützlich. Eine Blondine ist für jede böse Überraschung vorbereitet. Sie sucht die richtige Nadel und wählt einen passenden Faden. Der Faden lässt sich nicht leicht ins Loch stecken.
Die ersten zwei oder drei Versuche scheitern schnell, da der Zug sich unstetig nach vorne bewegt. Sie beißt kräftig an Faden und überprüft noch einmal das Loch an der Nadel, konzentriert sich, holt tief Luft, macht die Augen weit auf, nimmt sich Zeit und versucht nochmal das Loch zu erobern.
Der Faden stößt gegen den Lochrand und verfehlt das Ziel. Das Loch ist einfach zu klein. Kleine Löcher sind nicht immer vorteilhaft. Vielleicht ist der Faden zu dick, oder die Konstellation ist ungünstig. Dem Anschein nach sind diese Instrumente für eine Näharbeit im Zug nicht geeignet. Aber eine emanzipierte, moderne Dame gibt nicht einfach auf. Sie weiß sich zu helfen. Sie beugt sich nach vorne in Sonnenlicht, positioniert den Faden und den Nadeln und wartet auf einen günstigen Augenblick. Der Augenblick kommt und die Blondine verletzt sich. Die Nadelspitze trifft ihren Finger. Es ist der wichtigste Finger. Der grösste, der in der Mitte sitzt.
Ein Tröpfchen Blut kommt raus. Sie bekommt Angst. Schnell steckte sie den blutenden Finger in den Mund und saugt auf. Der Finger bleibt vorerst da, bis sie wieder zu sich kommt. Sie holt den Finger raus und betrachtet ihn von allen Seiten. Er ist sauber. Das Blut hat ihr gut getan. Beim nächsten Versuch besiegt sie das Loch und führt den Faden erfolgreich hinein.
Jetzt fängt sie mit der Näharbeit an. Zuerst fixiert sie den Knopf richtig am Platz, mit kleinen Drehung nach links, nach rechts und in allen Himmelrichtungen und näht. Sie zieht den Faden kräftig hin und her und probiert jedes mal die Festigkeit und die Position des Knopfes. Mit Pedanterie und Spinneneifer macht sie weiter.
Es gibt nichts wichtigeres auf der Welt als ein kleiner, runder und schwarzer Knopf auf dem Sakko einer Blondine, die in einer S -Bahnzug von Frankfurt nach Wiesbaden fährt. Und es gibt keine größere Herausforderung auf der Welt, als diesen Knopf in einem auf dem Schienen polternden Zug, vorschriftsmäßig zu nähen. Die Formanzuge sind ein wesentlicher Teil des Arbeitsdisziplins und wer sich für Disziplin einsetzt weiß genau, dass jeder Knopf fest und sicher sein muss.
Ein Knopf muss gegen alle Belastungen widerstandsfähig und beständig sein. Der Knopf am Sakko ist schon gegen jede Spannung befestigt. Trotzdem fährt die Blondine ein paar Mal durch die Löcher des Knopfes und erhöht so den Sicherheitsfaktor . Jetzt ist der Knopf nicht nur gegen Druck und Tension ,sondern auch gegen Biegung und Torsion und überhaupt gegen alle Belastungsformen stark und stabil.
Sie verdient einen Applaus, der nicht kommt, denn die Welt ist nicht immer gerecht. In diesem Moment erreicht unser Zug den Hauptbahnhof Mainz.
Die Mehrheit der Passagiere steigen aus. Nur wenige bleiben im Zug, die Blondine bleibt auch sitzen. Sie ist also eine Wiesbadenerin. Anders konnte es nicht sein. Es ist unverkennbar woher sie kommt. Man kann ihren Herkunft in ihren Augen, in ihren schiefen Blicken ablesen.
Ihre Selbstbewusstsein, ihre Ausstrahlung, ihre Überlegenheit, ihre süße, nach oben gerichtete Nase, vor allem aber ihre Entfremdung und insbesondere die festen und professionell eingesetzten Knöpfe an ihrem Sakko rufen laut: „ ich bin eine Wiesbadenerin “.
„ Nächste Halt. Wiesbaden Hauptbahnhof. Endstation. Bitte alle aussteigen “, hört man den Lautsprecher mitteilen. Alle machen sich bereit auszusteigen. Als die Blondine aufsteht, fällt ein Knopf von ihrem Sakko auf dem Boden. Sie hebt ihn auf und lächelt lustig aber mit viel Selbstbeherrschung. Es ist nicht so schlimm. Sie hat nur den falschen Knopf genäht!!

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ENDE

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